Verhaltensökonomische Alternativen zur Impfpflicht
Im Jahr 2017 starben weltweit mehr als 100.000 Menschen an den Folgen von Masernerkrankungen. In Österreich ist die Anzahl der Todesfälle vergleichsweise gering – was vor allem auf die flächendeckende Verfügbarkeit von Schutzimpfungen zurückzuführen ist. Dennoch entscheiden sich immer mehr Eltern, ihre Kinder nicht impfen zu lassen. Gerade kürzlich hat die mutmaßliche Masernerkrankung von 28 Babys in Graz eine intensive Debatte ausgelöst und Forderungen nach einer allgemeinen Impfpflicht wurden laut. Angesichts der Vehemenz und der fraglichen Argumente, mit denen Impfungen oft abgelehnt werden, und den sich daraus ergebenden gesundheitlichen Gefahren, eine verständliche Forderung. Aber ist eine allgemeine Impfpflicht wirklich der effektivste Weg, die Impfquote zu erhöhen? Gibt es nicht alternative Wege, Menschen zum Impfen zu bewegen?
Warum entscheiden sich Menschen gegen Impfungen?
Zunächst stellt sich die Frage, was Eltern dazu bewegt, ihr Kind nicht impfen zu lassen. Verschiedene Untersuchungen u.a. der Medizinischen Universität Wien (siehe ORF 2017) zeigen, dass es sich nur bei einem sehr kleinen Prozentsatz der Eltern um tief überzeugte Impfgegner handelt. Grundsätzlich ist die Mehrheit der Eltern dem Impfen gegenüber positiv eingestellt. Viele Eltern sind jedoch verunsichert oder mit der Entscheidung und den zahlreich verfügbaren Informationen überfordert und verschieben die Impfentscheidung, oder vergessen schlicht, einen Arzttermin zu vereinbaren.
Dies gilt in noch größerem Ausmaß für Impfungen bei Erwachsenen, wie zum Beispiel der jährlich vorgesehenen Grippeimpfung. Und auch hier liegt großes gesundheitspolitisches Potenzial begraben. Eine Metastudie von Demicheli et al. (2018) zeigt, dass eine Impfung die Wahrscheinlichkeit zu erkranken, durchschnittlich um 60% reduziert – eine nicht unerheblich Verbesserung in Anbetracht von jährlich über 1.000 Grippe-Toten in Österreich.
Kurzfristige Kosten, langfristiger Nutzen
Doch wie kann man Menschen dazu bringen, diese für sie selbst und andere so wichtigen Impfungen auch tatsächlich durchführen zu lassen? Aus der verhaltensökonomischen Forschung wissen wir, dass Menschen dazu tendieren, Aktivitäten mit unmittelbaren Kosten aber langfristigem Nutzen aufzuschieben. Zu dieser Kategorie zählen auch Impfungen, da die Kosten (bzw. mögliche Nachteile, also der Weg zum Arzt sowie eventuelle Nebenwirkungen oder Selbstbehalte) unmittelbar anfallen, während der Nutzen in Form des Schutzes vor Ansteckung erst langfristig zum Tragen kommt und auch nicht direkt beobachtbar ist.
Erinnerungs-E-Mails und Terminvereinbarung per Default
Aufforderungen und Erinnerungsmitteilungen stellen in solchen Situationen ein wirksames Instrument dar, Menschen dazu zu bringen, die sich langfristig auszahlende Investition dennoch zu tätigen und die Terminvereinbarung nicht weiter aufzuschieben. Noch besser wirken solche Aufforderungen, wenn sie mit dem Schmieden eines konkreten Plans verbunden werden.
Diese Erkenntnis macht sich eine wissenschaftlich begleitete Intervention in einem großen US-amerikanischen Unternehmen zunutze (siehe Milkman et al. 2011). Für die jährlich stattfindende, kostenlose Grippeimpfung wurden die Angestellten per E-Mail kontaktiert und informiert, wo und zu welchen Zeitpunkten die Impfungen durchgeführt werden können. Ein Teil der Angestellten erhielt zusätzlich die Aufforderung, sich ein konkretes Datum und eine Uhrzeit zu notieren, zu der sie planen, die Impfung durchführen zu lassen. Diese einfache Maßnahme führte zu einer über zehnprozentigen Erhöhung der Teilnahmequote im Vergleich zu einer Kontrollgruppe.
An der US-amerikanischen Rutgers University konnte durch eine kleine Veränderung des Anmeldeverfahrens für die jährliche Grippeimpfung eine noch größere Verbesserung der Teilnahmequote erzielt werden (siehe Chapman et al. 2010). Die Beschäftigten der Universität bekamen per E-Mail eine Einladung zur jährlichen Grippeimpfung. Die eine Hälfte der Beschäftigten erhielt einen Link mit der Möglichkeit, online einen konkreten Termin zu vereinbaren. Für die andere Hälfte wurde bereits vorab ein individueller Termin festgelegt und Tag, Uhrzeit und Ort per E-Mail kommuniziert, wobei der Termin per Link verlegt oder storniert werden konnte. Während in der ersten Gruppe die Teilnahmequote nur 33% betrug, lag die Teilnahmequote in der Gruppe mit bereits festgelegtem Termin mit 45% deutlich höher.
Bei ÄrztInnen ansetzen – Automatisierte Bestellung des Impfstoffs und soziale Normen
Verhaltensökonomische Ansätze zur Erhöhung der Impfquote gibt es auch auf Seite der ÄrztInnen. Jene spielen eine zentrale Rolle bei der Impfentscheidung. Ein häufiger Grund für ausbleibende Impfungen liegt oft darin, dass die Impfung beim Arztbesuch gar nicht erst empfohlen wird. Hier setzt eine Studie der University of Pennsylvania von Patel et al. (2017) an, die durch ein zusätzliches Feature im System der elektronischen Patientenakten, ÄrztInnen die vorgesehene Impfung in das Gedächtnis ruft. Ist der Patient für eine Grippe-Impfung anspruchsberechtigt, öffnet sich beim Aufrufen der Patientenakte ein kleines Fenster, in dem die behandelnde Ärztin die Bestellung des Grippe-Impfstoffs bestätigen oder abbestellen muss. Diese Maßnahme führte zu einer deutlichen Erhöhung der Anzahl der durchgeführten Impfungen und findet erfreulicherweise gerade auch Einzug in die aktuelle Debatte in Österreich.
Ein weiterer Ansatzpunkt, die Impfbereitschaft bei ÄrztInnen zu erhöhen, kann der Verweis auf soziale Normen darstellen. Getestet wurde eine solche Idee bereits im Kontext von Antibiotikaverschreibungen (siehe Hallsworth et al. 2016). Erhalten ÄrztInnen einen Brief, in dem sie informiert werden, dass sie deutlich mehr Antibiotika als KollegInnen in vergleichbaren Praxen verschreiben, so reduzieren sich in der Folge die Anzahl der eigenen Verschreibungen – mit positiven Auswirkungen hinsichtlich des Auftretens von Antibiotikaresistenzen. Auf ähnliche Art und Weise könnten Kinderärztinnen über die Impfquote in benachbarten Praxen informiert werden und so angespornt werden, die eigene Impfquote zu erhöhen.
Auch wenn sich die bisher durchgeführten Studien größtenteils auf Impfungen für Erwachsene beziehen bzw. verwandte Aspekte des Gesundheitsbereichs betreffen, lassen sich die Ansätze problemlos auf die so wichtigen Impfungen im Kleinkindalter übertragen. Impftermine könnten in Kinderarztpraxen automatisch im Rahmen von Mutter-Kind-Pass-Untersuchungen vergeben werden, die aktiv wieder abgesagt werden müssen und durch Erinnerungs-SMS in das Gedächtnis der Eltern gerufen werden. Auch eine automatisierte Bestellung des Impfstoffes beim Öffnen der Patientenakte oder der Verweis auf höhere Impfquoten in benachbarten Praxen ließe sich im Kontext von Kinderimpfungen realisieren.
Vorteile gegenüber einer allgemeinen Impfpflicht
Gegenüber einer allgemeinen Impfpflicht haben diese Maßnahmen den Vorteil, dass sie die individuelle Wahlfreiheit erhalten. Die Entscheidung, von wichtigen Impfungen abzusehen, mag aus wissenschaftlicher oder gesundheitspolitischer Sicht schwer nachvollziehbar sein. Wer aber fest davon überzeugt ist, seinem Kind mit der Impfung zu schaden, für den impliziert eine allgemeine Impfplicht hohe psychologische Kosten, die durch Freiwilligkeit des Impfens vermieden werden könnten (wobei es ohne Frage wichtig ist, gleichzeitig Vorurteile abzubauen und der Verbreitung falscher Informationen entgegenzuwirken).
Zudem ist ohne tiefergehende Analyse ex ante nicht klar, wie Menschen auf eine Impfpflicht reagieren würden. Es ist durchaus denkbar, dass der externe Zwang instinktiv zu einer Abwehrhaltung führt und sich gerade unentschlossene Eltern aus Protest der Impfpflicht widersetzen. Ein Online-Experiment von Betsch und Böhm (2015) beispielsweise zeigt, dass die Einführung einer (partiellen) Impfpflicht zu Verärgerung sowie einer niedrigeren Impfakzeptanz führt und sich somit negativ auf andere, nicht verpflichtende Impfungen auswirkt. Wie genau die Reaktion auf eine allgemeine Impfpflicht ausfällt, hängt letztendlich von der Art und Höhe der Sanktion ab. Ein häufiger Vorschlag sieht beispielsweise die Kürzung von Sozialleistungen oder der Familienbeihilfe vor. Eine solche Maßnahme würde aber letztendlich genau diejenigen treffen, die ohnehin schon durch den mangelnden Impfschutz bestraft sind – nämlich die betroffenen Kinder.
Literatur
Betsch, C., & Böhm, R. (2015). Detrimental effects of introducing partial compulsory vaccination: experimental evidence. The European Journal of Public Health, 26(3), 378-381.
Chapman, G. B., Li, M., Colby, H., & Yoon, H. (2010). Opting in vs opting out of influenza vaccination. Jama, 304(1), 43-44.
Demicheli, V., Jefferson, T., Ferroni, E., Rivetti, A., & Di Pietrantonj, C. (2018). Vaccines for preventing influenza in healthy adults. Cochrane Database of Systematic Reviews, (2).
Hallsworth, M., Chadborn, T., Sallis, A., Sanders, M., Berry, D., Greaves, F., … & Davies, S. C. (2016). Provision of social norm feedback to high prescribers of antibiotics in general practice: a pragmatic national randomised controlled trial. The Lancet, 387(10029), 1743-1752.
Milkman, K. L., Beshears, J., Choi, J. J., Laibson, D., & Madrian, B. C. (2011). Using implementation intentions prompts to enhance influenza vaccination rates. Proceedings of the National Academy of Sciences, 108(26), 10415-10420.
ORF (2017). Wenige Österreicher sind strikte Impfgegner. Abrufbar unter https://wien.orf.at/news/stories/2871271/
Patel, M. S., Volpp, K. G., Small, D. S., Wynne, C., Zhu, J., Yang, L., … & Day, S. C. (2017). Using active choice within the electronic health record to increase influenza vaccination rates. Journal of general internal medicine, 32(7), 790-795.
Titelbild: Hyttalo Souza (gefunden auf unsplash.com)
Der Verweis auf die Studie von Betsch und Böhm (2015) wurde nachträglich am 08.02.2019 hinzugefügt.