(M)ein neuer Alltag nach dem Lockdown?
Zu Lockdown-Zeiten habe ich oft mit meiner Familie Online-Spiele gespielt, jetzt gar nicht mehr. Stattdessen freue ich mich auf den nächsten Besuch „in echt“. Auf noch einen Online-Sprachkurs verzichte ich gern, exzessives Händewaschen hingegen habe ich mir beibehalten. Und auch die Möglichkeit, manchmal Home-Office zu machen, weiß ich zu schätzen.
So geht es mir. Aber wie geht es den Anderen? Wie hat der Lockdown die ÖsterreicherInnen geprägt? Welche Verhaltensweisen bleiben bestehen, welche haben sie satt? Welche Implikationen ergeben sich daraus für Wirtschaft und Politik? Wo braucht es Vorschriften, wo mehr Freiheit? Diese und weitere Fragen beantworten wir in der Studie „Das neue Retro? Österreich nach der Corona-Krise“.
Evidenzbasierte Antworten
Gemeinsam mit dem Meinungsforschungsinstitut Karmasin Research & Identity wurden dazu über 1000 ÖsterreicherInnen erstens zu ihrem Verhalten während des Lockdowns und zweitens zu ihrem voraussichtlich zukünftigen Verhalten befragt (Erhebungszeitraum: 10. – 13. April 2020). Die Studie liefert Erkenntnisse für all jene, die den österreichischen Alltag mit Corona verstehen und gezielt mitgestalten möchten. Einige Resultate dieser Studie stelle ich in diesem Blogartikel vor.
Die umfassende Analyse der 49 Verhaltensweisen in 11 Themenbereichen finden Sie in der Langfassung hier zum Download. Diese beinhaltet auch eine Einordnung der ÖsterreicherInnen je nach „Mindset“ und Ideen dazu, wie Politik/Wirtschaft diese Personen dezidiert erreichen können.
Was bleibt, was geht?
Die Verhaltensweisen im Lockdown werden in unserer Matrix mit den erwarteten zukünftigen Verhaltensweisen in Relation gesetzt. Durch die Gegenüberstellung von Lockdown- und Zukunfts-Verhalten lassen sich spannende Rückschlüsse auf mögliche bevorstehende Umbrüche ziehen.
Im Schaubild werden die durchschnittlichen Antworten der Befragten zum aktuellen und zukünftigen Verhalten in einem Koordinatensystem dargestellt. Auf der x-Achse wird das Lockdown-Verhalten im Vergleich zu vor Corona angezeigt, auf der y-Achse das für die Zukunft geplante im Vergleich zu vor Corona. Das Schaubild lässt sich anschließend in fünf Kategorien unterteilen, die die Bandbreite an Veränderungen beschreiben.

Abbildung 1: Matrix zur Verhaltens-Kategorisierung (Das neue Retro, 2020, bearbeitet durch A. Walter, Insight Austria)
Keine Veränderung
Die runde Fläche um den Nullpunkt beschreibt Verhaltensweisen, welche von der Corona-Krise weitgehend unbeeinflusst sind. In diese Kategorie fällt fast jede dritte der 49 abgefragten Verhaltensweisen. Beim Einkauf günstiger Lebensmittel hat sich beispielsweise kaum etwas durch Corona verändert: die Situation ist unverändert und dabei bleibt es den Befragten zufolge auch. Dasselbe gilt für die Motivation, Geld zu spenden.
Back-to-normal
In anderen Lebensbereichen sind zwar Veränderungen zu verzeichnen, allerdings sind diese temporär auf den Lockdown beschränkt (rund um die x-Achse). So wurde zu Zeiten des Lockdowns auf größere Anschaffungen verzichtet. Die ÖsterreicherInnen planen jedoch bereits, dies bald wieder in „altem“ Umfang zu tun. Etwas überraschend: auch wenn Corona die Digitalisierung vorangetrieben hat, wird das Nutzen von Home-Office und digitalen Tools zum Arbeiten (Online-Meetings, Videokonferenzen) im derzeitigen Ausmaß nicht fortbestehen, wenn es nach den Befragten geht. Wohlgemerkt gibt es hier signifikante Altersunterschiede, das heißt je älter die Befragten, desto weniger möchten sie diese digitalen Verhaltensweisen zukünftig beibehalten.
Veränderung bleibt
Hierbei handelt es sich um Corona-inspirierte Verhaltensänderungen, an die sich die ÖsterreicherInnen nun gewöhnt haben und die sie auch in Zukunft beibehalten möchten. Es sticht, nicht wirklich überraschend, das Themenfeld „Hygiene“ hervor (z.B. Abstand halten, auf Hygiene achten, …). Aber auch eine Besinnung auf „das Wesentliche“ hat sich scheinbar eingestellt. So geben die Befragten an, in Zukunft auch weiterhin mehr zu sparen, über das Leben nachdenken und sich selbst etwas Gutes tun zu wollen. Außerdem schätzen sie regionale Herkunft mehr wert und möchten online mehr regional als bei internationalen Ketten einkaufen. Für den Kontakt mit Familie und Freunden haben sich digitale Kommunikationsmedien etabliert. Selbst den Kochlöffel zu schwingen, scheint Teil der neuen Normalität zu sein. Denn zu den dank Corona reduzierten Verhaltensweisen, bei denen es voraussichtlich bleibt, gehört das Bestellen bei Lieferservices. Insgesamt hat Corona in einigen Themenfeldern einen nachhaltigen Umbruch hervorgerufen; dies betrifft fast die Hälfte (rund 47%) der abgefragten Verhaltensweisen.
Mind-Behaviour-Gaps
Die vorliegende Studie dokumentiert auch potenzielle „Mind-Behaviour-Gaps“. Dabei handelt es sich um Vorsätze, die man sich zwar vornimmt, aber in der Realität dann nicht umsetzt (vgl. Sheeran und Webb, 2016). Ähnlich wie zu Neujahr nehmen sich die ÖsterreicherInnen beispielsweise vor, nach Corona gesünder zu leben (Sport, Abnehmen, weniger snacken). Aus verhaltensökonomischer Sicht ist diese Kategorie besonders bedeutsam, da die Menschen während des Lockdowns offenbar gegen ihre langfristigen Interessen handeln und dennoch überoptimistische Zukunftspläne schmieden. Doch wenn es bereits heute nicht mit dem Energiesparen klappt, warum sollte es morgen auf einmal leichter fallen? Wunschdenken! Übrigens: im Jahr 2019 hat Insight Austria bereits gemeinsam mit Karmasin Research & Identity die „Mind-Behaviour-Gaps“ der ÖsterreicherInnen umfassend untersucht. Die Studie vom letzten Jahr ist hier zu finden.
„Unliebsame“ Veränderungen: Nachholen/Genug davon
Manchen Corona-induzierten Veränderungen begegnen die ÖsterreicherInnen mit Skepsis. So möchte man Bestimmtes (Arztbesuche/Vorsorgeuntersuchungen) zukünftig in jedem Fall nachholen, während man Anderes buchstäblich satthat (z.B. zu viel essen, Stress empfinden). In diese Kategorie fallen nur wenige Verhaltensweisen, was heißt, dass es in der Regel keinen plötzlichen Umbruch nach Corona geben wird. Exemplarisch wurden noch zwei während des Lockdowns „verbotene“ Verhaltensweisen abgefragt. Wieder manifestiert sich der Zukunftstrend Regionalität: die Befragten geben an, zukünftig mehr als vor der Krise in Österreich Urlaub zu planen.

Abbildung 2: Matrix mit einigen Verhaltensweisen (Das neue Retro, 2020)
Zusammenfassung: Das neue Retro
Die Corona-Krise stellt Vieles auf den Kopf; wird von Unsicherheit begleitet. Ein besseres Verständnis für das, was uns in Zukunft erwartet, ist wichtig, um das Leben mit Corona zu gestalten. Unsere Studie bringt evidenzbasiertes Licht ins Dunkel. Die Ergebnisse zusammengefasst: Die Veränderungen zeigen einen zukünftigen Lebensstil, den wir „das neue Retro“ getauft haben. Die Menschen sind auf Sparkurs, möchten weniger Geld ausgeben, weniger investieren. Gleichzeitig spielt Achtsamkeit eine größere Rolle als vor der Krise (Fokus auf Gesundheit und Wohlbefinden). Die Selbstbezogenheit umfasst auch die direkte Umgebung (Fokus auf Regionalität).
Das neue Retro und seine Implikationen
Um die österreichische Wirtschaft gezielt zu fördern, sollte dieser neue Lebensstil angesprochen werden. Unternehmen sollten das Bedürfnis nach Achtsamkeit und Regionalität anerkennen und mit passenden Produkten bzw. Dienstleistungen hinterlegen. Ein ansässiger Unterwäscheanbieter wirbt derzeit beispielsweise mit „Österreich-Wochen“. Keine schlechte Idee. Beispielsweise zeigt sich, dass im eCommerce regionale AnbieterInnen internationalen Ketten vorgezogen werden. Einen attraktiven Online-Auftritt zu haben, ist für lokale AnbieterInnen wichtig und lohnenswert. Bereits im Lockdown wurden beispielweise Verzeichnisse von österreichischen HändlerInnen mit Online-Angebot angelegt, ein Bewusstsein für Regionales ist vorhanden. Wie Neujahr erlaubt auch Corona einen Neuanfang. Jetzt ist die Zeit reif für Unternehmen und Policies, welche es den ÖsterreicherInnen leicht machen und ihre guten Intentionen unterstützen. Zum Beispiel könnten Fitnessstudios und Energieanbieter den „Neustart-Effekt“ nutzen, indem sie KundInnen an ihre Vorsätze erinnern und die Post-Lockdown-Zeit als tolle Chance zur Umsetzung charakterisieren. Weitere Implikationen und maßgeschneiderte Handlungsstrategien für Politik und Wirtschaft gibt es in der Langversion der Studie zum Nachlesen. Für ganz Eilige empfehlen wir den überblicksartigen Artikel der Wochenzeitung Die Zeit zur Studie.
Literatur
Sheeran, P., & Webb, T. L. (2016). The Intention-Behavior Gap. Social and Personality Psychology Compass, 10 (9), 503-518.
Titelbild: Jordan McQueen (gefunden auf https://unsplash.com)