Die verhaltensökonomische Perspektive auf die Coronakrise
In einer Pandemie, die zu starken Einschränkungen für die wirtschaftliche Aktivität führt, wie wir sie jetzt mit Covid-19 erleben, stehen aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht zuerst Arbeitsplätze, Firmenliquidität, Bankenliquidität, fiskalische Rettungsschirme und (inter-)nationale Lieferketten im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit. Es geht darum, einer sich rasch ausbreitenden wirtschaftlichen Krise möglichst schnell und möglichst massiv zu begegnen. Anreizwirkungen von Hilfspaketen oder die Details von Unterstützungsprogrammen werden dabei etwas in den Hintergrund der Diskussion gedrängt. Und natürlich interessieren die Öffentlichkeit und die Politik vor allem die Frage: Wie hoch sind die wirtschaftlichen Kosten?
Die Verhaltensökonomie scheint in einer solchen Krise vordergründig weniger relevant. Doch eine solche Einschätzung ist falsch. Es gibt zumindest drei Bereiche, in denen menschliches Verhalten und seine psychologischen, soziologischen und ökonomischen Determinanten zentral sind, wenn es um die Bekämpfung der Pandemie geht: die menschliche Reaktion auf Unsicherheit, die Erwartungsbildung angesichts eines Erwartungsteufelskreis nach unten und die Einhaltung von vorgegebenen Regeln („Compliance“), die helfen, die Infektionsrate zu senken.
Unser Umgang mit Unsicherheit
Es ist kein Zufall, dass der erste „Nobelpreis“ für die Verhaltensökonomie 2003 zur Hälfte an den Wirtschaftspsychologen Daniel Kahneman ging, der ausführlich zu Entscheidungen unter Unsicherheit geforscht hat (Kahneman und Tversky, 1979). Die wirtschaftliche Reaktion auf Unsicherheit beschäftigt PsychologInnen und ÖkonomInnen gleichermaßen seit Jahrhunderten. Die Problematik mit so genannten stochastischen (unsicheren) Umwelten ist: Man kann recht haben, aber im konkreten Fall doch falsch liegen. Menschliche Entscheidungsgrundlage ist meist die eigene Erfahrung; diese ist jedoch deterministisch, nicht stochastisch. Bei oft auftretenden Ereignissen, mit denen wir Erfahrung gemacht haben, tun wir uns relativ leicht, selbst wenn sie stochastisch sind. Aber mit so genannten schwarzen Schwänen, Ereignissen, mit denen wir nicht rechnen, tun wir uns besonders schwer.
Die drei Stufen der Unsicherheit: Risiko, Ambiguität und „unknown unknowns“
Es gibt strenggenommen drei Stufen der Unsicherheit: jene Unsicherheit, die wir oft erfahren und der wir daher Wahrscheinlichkeiten zuordnen können (Risiko); Unsicherheit, die wir nicht oft erfahren und der wir daher keine oder nur sehr vage Wahrscheinlichkeiten zuordnen können (Ambiguität); und Unwissenheit (das, was der amerikanische Verteidigungsminister Donald Rumsfeld treffend als „unknown unknowns“ bezeichnet hat). Je unsicherer eine Situation, desto mehr versuchen wir ihr zu entkommen (Kocher et al., 2018).
Der Balanceakt zwischen Corona Verharmlosung und Panikmache
Eine Pandemie wie Corona verbindet die beiden letzten Kategorien. Sie bietet damit zwei Ansätze zu systematischen Verhaltensverzerrungen: Auf der einen Seite gibt es Menschen, die die Unsicherheit massiv überschätzen und dadurch zu Angst und Panik neigen. Auf der anderen Seite gibt es wiederum Menschen, die die Unsicherheit unterschätzen und dann naturgemäß zur Verharmlosung neigen. Und selbst wann man richtig liegt, kann man im Nachhinein falsch gehandelt haben und umgekehrt.
In einer solchen Situation ist Kommunikation besonders wichtig, um die Unsicherheit zu reduzieren. Die richtige Balance zwischen Dramatisierung und Verharmlosung zu finden, ist nicht einfach. Wenn man will, dass die Einschränkungen der Bewegungsfreiheit eingehalten werden, dann müssen öffentliche VertreterInnen auf die Ernsthaftigkeit der Lage hinweisen. Übertreibt man dabei, wird schnell Panik verbreitet, und die Regale in den Supermärkten werden geleert (und nicht nur jene für Toilettenpapier). Ein Übertreiben kann aber auch dazu führen, dass sich Leute nicht an die Regeln halten, weil sie vielleicht denken, dass Ihr Beitrag ohnehin nichts mehr bringt.
Wenn du Abstand hältst, tue ich das auch – das Prinzip der konditionalen Kooperation
Dieser Beitrag einzelner zu einer Strategie physischer (sozialer) Distanzierung beruht auch auf einem zentralen verhaltensökonomischen Konzept: der konditionalen Kooperation in einem sozialen Dilemma. Physische Distanzierung verursacht Kosten, vielfach nicht monetär, aber psychologisch. Diesen psychologischen Kosten der Distanzierung stehen Vorteile gegenüber; ökonomisch werden solche Vorteile als „Nutzen“ bezeichnet. Der Hauptnutzen der physischen Distanzierung ist oft nicht individuell – insbesondere, wenn man jung und grundsätzlich gesund ist – sondern er ist kollektiv, über die Unterbrechung der Ansteckungsketten. Wie beim Impfen beruht das gesellschaftliche Ergebnis auf der Bereitschaft des Individuums etwas zu tun, das individuell vielleicht nicht nutzenmaximierend ist, aber kollektiv optimal. Wir wissen aus einer Unzahl von Studien, dass Menschen bereit sind, auf eigenen Nutzen für das Kollektiv zu verzichten, so lange sie wissen, dass andere das auch tun (z.B. Kocher et al., 2008). Wenn Menschen beginnen, sich nicht an diese implizite Vereinbarung zu halten, dann schwindet die Kooperationsbereitschaft schnell, und es muss stärkere Anreize geben, d.h. eine konsequentere Durchsetzung von Maßnahmen und höhere Strafen bei Nicht-Befolgung, die dann aber oft auch nicht gut wirken.
Erwartungsbildung auf Märkten
Die Aktienmärkte sind ein Paradebeispiel für die Folgen der Unsicherheit für die Erwartungsbildung. Schon der britische Ökonom John Maynard Keynes beschrieb ausführlich, dass die Erwartungen von Wirtschaftssubjekten – Arbeitskräften und Unternehmen, aber auch InvestorInnen – eine zentrale Rolle für ökonomische Entscheidungen spielen. Und diese Erwartungen sind nicht fix; sie ändern sich mit Informationen und mit der eigenen Einschätzung; sie können korrekt, aber auch stark verzerrt sein. Im Moment beobachten wir einen Erwartungsteufelskreislauf nach unten. Die negativen Nachrichten werden zu selbsterfüllenden Prophezeiungen und verstärken den Abwärtstrend – das geht oft weit über das hinaus, was fundamental gerechtfertigt ist. Es ist die Aufgabe der Wirtschaftspolitik, diese Erwartungen mittels der Ankündigung wirtschaftspolitischer Maßnahmen zu stabilisieren. Auch in diesem Zusammenhang ist es nicht einfach, die richtigen Botschaften zu senden. Ein Beispiel: Wenn in einer solchen Situation eine Notenbank die Zinsen stark senkt, um Liquidität bereitzustellen und damit die Wirtschaft ankurbeln möchte, kann die Entscheidung als positives Signal gesehen werden (Unternehmern werden investieren und es wird mehr konsumiert) oder als negatives Signal (es muss schon sehr schlimm um die Wirtschaft bestellt sein, dass die Notenbank zu so starken Instrumenten greift).
Gerade in Zeiten der Coronakrise, für deren Bekämpfung es keine wirtschaftspolitischen Blaupausen gibt, weil es eine ähnliche Pandemie seit etwa 100 Jahren nicht mehr gegeben hat, können Erwartungen noch viel wichtiger sein als in konventionellen Rezessionen. In konventionellen Rezessionen sind Erwartungen sehr träge; d.h. sie verändern sich relativ langsam – das gilt sowohl nach unten als auch nach oben. In einer Angebotskrise, d.h. bei einem starken Abfall des Angebots in gewissen Sektoren, verändern sich Erwartungen teilweise rasend schnell, je nach Information über den Infektionsstand und den medizinischen und wirtschaftspolitischen Maßnahmen, die getroffen werden. Das heißt, es besteht auch die Chance auf einen circulus virtuosus nach oben, wenn die medizinische Unsicherheit sinkt und wenn die beschlossenen wirtschaftspolitischen Maßnahmen so greifen wie erwartet.
Das subjektive Gefühl, dass die jetzige Krise eine noch nie dagewesene Herausforderung darstellt, bedeutet übrigens nicht, dass das wirklich so sein muss. Anekdotische Evidenz aus der Finanzkrise 2008/2009 zeigt, dass die Gefühlslage der Wirtschaftssubjekte damals sehr ähnlich gewesen ist.
Compliance mit vorgegebenen Regeln
Ein Kerngebiet der Verhaltensökonomie ist es, Institutionen so zu gestalten, dass sie auch wirksam sind. In der konkreten Corona-Situation geht es darum, wie man es schafft, dass Menschen die vorgegebenen Regeln einhalten: also Abstand halten, Hygienebestimmungen befolgen, bei Anzeichen von Erkrankung zu Hause bleiben, usw. Manches kann durch wohldosierte Anreize (Belohnungen und Strafen) erreicht werden, wobei die Gefahr besteht, dass starke Anreize freiwillige Compliance untergraben und verdrängen. Vieles kann man mittels Anreize auch nicht gut regeln.
Die Verhaltensökonomie hat für solche Fälle, in denen Anreize nicht gesetzt werden wollen oder nicht gesetzt werden können, das Konzept des Nudging entwickelt. Nudges können beispielsweise bei der Etablierung von Routinen helfen. Nehmen wir das Thema Hygiene: Regelmäßiges Zähneputzen wird von Kindheit an eingebläut, und man wiederholt es so oft, bis es zur Gewohnheit geworden ist. Routinemäßige Tätigkeiten passieren automatisiert und erfordern dementsprechend weniger (kognitive) Anstrengung. Dies gilt auch fürs Händewaschen, wie Hussam et al. (2018) in einer experimentellen Studie im ländlichen Indien beweisen. Indem sie Anreize setzten (Gutscheinausgaben) und sozialen Druck suggerierten (Seifenspender mit Überwachungssensoren), konnte Händewaschen langfristig als Routine implementiert werden. Als die Anreize bzw. Sensoren abgestellt wurden, blieben die hohen Händewasch-Raten erhalten – was beweist, dass sich hier eine Gewohnheit herausgebildet hatte. Selbstverständlich kann man solche Gewohnheiten auch selbst – ohne initialen Anreiz – einüben. Erinnerungen und positive Verstärkungen (Belohnungen) sind in diesem Zusammenhang wichtig, und es gibt jede Menge Möglichkeiten der Unterstützung in Form von Apps und Tools.
Literatur
Kahnehman, D., & Tversky, A. (1979). Prospect theory: an analysis of decision under risk. Econometrica 47, 263-291.
Kocher, M., Cherry, T., Kroll, S., Netzer, R., & Sutter, M. (2008). Conditional cooperation on three continents. Economics Letters 101, 175-178.
Kocher, M., Lahno, A. M., & Trautmann, S. T. (2018). Ambiguity aversion is not universal. European Economic Review 101, 268-283.
Hussam, R., Rabbani, A., Reggiani, G., & Rigol, N. (2018). Rational Habit Formation: Experimental Evidence from Handwashing in India.
Titelfoto von “Free to use sounds” (gefunden auf https://unsplash.com)